Suche in der Vergangenheit

[button link=“#kapitel1″ size=large“ style=“dark“]I Die Kündigung[/button]

[button link=“#kapitel2″ size=large“ style=“dark“]II Die Reise[/button]

[button link=“#kapitel3″ size=large“ style=“dark“]III Plostock[/button]

[button link=“#kapitel4″ size=large“ style=“dark“]IV Licht im Dunckeln[/button]

[button link=“#kapitel5″ size=large“ style=“dark“]V Die Rückkehr[/button]

[button link=“#kapitel6″ size=large“ style=“dark“]VI Finsternis[/button]

[button link=“#kapitel7″ size=large“ style=“dark“]VII Die Erleuchtung[/button]

 

Kapitel I (Die Kündigung)

Robert McAllister lud seine Vorlage, veränderte ein paar Sätze und genoß den Mausklick, mit dem er seine Kündigung per Email an seinen Brötchengeber schickte.

Robert hatte schon viele Kündigungen geschrieben. Aber diesmal fühlte er sich wirklich frei. Er war 32 Jahre alt und hatte schon immer mit allem, was er anpackte, Erfolg. Nur als seine Eltern ihm zu seinem zehnten Geburtstag gebeichtet hatten, daß er genetisch nicht von ihnen abstammte, sondern adoptiert sei, brach seine Leistungsbereitschaft für ein halbes Jahr ein. Bereits während des Studiums hatten mehrere Unternehmen versucht, ihn für sich zu gewinnen, doch Robert hatte stets abgewinkt. Er war sich noch nicht sicher gewesen, was ihn am meißten interessierte. Er studierte im wirtschaftlichen, genauso wie im wissenschaftlichen und im künstlerischen Bereich. Schließlich hatte er sich dann vor fünf Jahren hinreißen lassen, zu arbeiten und in einem Konzern als universeller Berater angefangen. Die Arbeit reizte ihn nicht lange und er wechselte den Arbeitgeber fast von Monat zu Monat.

Diesmal hatte er jedoch nicht vor, auf eins der unzähligen Abwerbungsangebote der babygesichtigen Jungmanager einzugehen. Seine Eltern haben ihm nie gesagt, wer seine genetischen Eltern waren. Entweder sie wollten es nicht oder sie wußten es nicht. Aber das war jetzt egal, denn Robert würde sie suchen und finden. Er erhoffte sich, herauszufinden, was seine Eltern beruflich taten, vielleicht würde es ihm dadurch einfacher fallen, sich zu entscheiden.

 

Kapitel II (Die Reise)

Der einzige Anhaltspunkt, den Robert hatte, war der Vermerk auf dem Chip seiner Ausweiskarte. Neben Körpermerkmalen, Wohnort und Bankverbindung stand auch sein Geburtsort: Plostock. Ein Ort, von dem er nicht mehr wußte, als das es ein sehr kleines Dörfchen nahe Lodz im ehemaligen Polen ist.

Robert buchte einen Flug nach Lodz, schrieb seinen Adoptiveltern, bei denen die genetischen Eltern stets ein Tabuthema waren, vom Flughafen aus noch eine kurze Nachricht, wohin er flog und aus welchem Grund er es tat.

Erstmals hatte er während eines Fluges Zeit, verträumt aus dem Fenster zu schauen, anstatt Aufgaben abzuarbeiten. Er wunderte sich, wie klein doch die riesigen Städte, im Vergleich zur weiten Landschaft waren, die er noch nie gesehen hatte. Er fragte sich, ob dort auch noch Menschen wohnten.

Die Maschine setzte pünktlich in Lodz auf. Robert nahm seinen Mietwagen entgegen (ein Auto an dessen Entwicklung er vor fünf Jahren aktiv beteiligt gewesen war) und machte sich auf den Weg nach Plostock. Rechts von der Autobahn standen die etlichen Wolkenkratzer der Stadt und schienen um Aufmerksamkeit zu buhlen. Links gab es nur freies Land, das sich in der Ferne mit lichtem Nebel und dem Horizont mischte. Für Robert war es ein komisches Gefühl, die Hochhäuser aus so weiter Ferne zu sehen und keine einzige Stimme um sich herum zu haben. Was wäre aus ihm geworden, wenn er nicht bei den McAllisters, sondern in dem kleinen Dörfchen, das er jetzt suchte, aufgewachsen wäre? Er konnte sich das Leben in einem Dorf überhaupt nicht vorstellen. Was machten die Menschen dort den ganzen Tag? Sicher, sie würden einen Computer haben, aber sie konnten nicht mal schnell in die Metro steigen und in ein VR-Studio fahren. Und wie bekamen sie ihre eingekauften Waren, wie Kleider oder Lebensmittel? Geliefert wurde es ihnen bestimmt nicht. „Unrentabel“ entschied Robert. Wäre er, auch wenn er in Plostock aufgewachsen wäre, in die Stadt gesiedelt?

Seine Spannung wuchs mit jedem Kilometer, den er zurücklegte. Er hatte seine genetischen Eltern nicht darüber informiert, daß er kommen würde. Sie würden noch leben, sie konnten höchstens achtzig sein.

Robert sah einen Kilometer vor sich einige kleine Häuschen an der Straße. Aber das konnte kein Dorf sein, dafür waren es zuwenige Häuser.

An die Wand des ersten Hauses war ein vergilbtes Schild mit den Buchstaben „Plostock“ genagelt.

 

Kapitel III (Plostock)

Robert parkte sein Auto am Straßenrand, stieg aus und schaute sich um. Die dicken Alleebäume ließen nur sehr wenig Licht auf die Straße und die Häuser fallen. Zwischen zwei Barracken standen auf einem Sandparkplatz drei Autos, die schon längst hätten ausgemustert sein sollen, und ein ebenso alter Transporter. Nur Menschen sah Robert nicht.

Er ließ seinen Wagen stehen und ging langsam durch das Dorf. Sein Glücksgefühl und die Freiheit die er auf der Fahrt hierher gespürt hatte, waren verschwunden. Stattdessen nistete sich eine dunkle, unergründliche Angst in Roberts Gedanken. Stets war er von Menschen und Lärm umgeben gewesen. Dunkelheit gab es in der Stadt nie. Zum ersten Mal konnte Robert nichts hören, außer den Wind, der durch die bröckelnden Häuser zog.

Er blieb vor einer Holzbarracke stehen, über dessen Tür ein Schild mit dem Bild eines Bierkruges baumelte. Hinter den Fenstern war es noch dunkler, als auf der Straße. Robert setzte sich auf die Eingangsstufe.

Ein ausgestorbenes, dunkles Dorf. Das es soetwas wirklich noch gab! Robert hatte darüber nur gelesen. Geisterstadt wurde es genannt. Und schon dieser Ausdruck ließ ihn schaudern.

„sy….lle“ Robert drehte sich erschrocken in alle Richtungen. War das eine Stimme? Er sah niemanden. Oder war es der Wind? Oder bildete er sich jetzt schon Stimmen ein? Er saß wie versteinert, hielt fast den Atem an und lauschte der Stille.

Seine Angst wuchs.

Hinter einem der Häuser kamen ein Mann und eine Frau mit riesigen Säcken auf dem Rücken hervor. Sie waren in verdreckte Lumpen gehüllt und mußten um die 90 Jahre alt sein. Gekrümmt von der schweren Last in den Säcken schlürften sie wortlos und mit hängenden Köpfen die Straße entlang. Der Anblick der beiden war erschreckend. Robert hatte noch nie Menschen gesehen, die so heruntergekommen aussahen. Die beiden paßten gut in eine Geisterstadt, überlegte er.

Er ging auf sie zu, bis der Opa, der vor der Oma lief, den Kopf hob und Robert sah. Er blieb erschrocken stehen und setzte seine Last ab. Ungewissheit und sogar Angst waren in seinem faltigen Gesicht deutlich zu erkennen. Robert kam näher. Ängstlich wich der Greis einen Schritt zurück. Er schaute die Frau, die ebenfalls stehengeblieben war, ungläubig an.

„Hallo! Mein Name ist Robert McAllister. Ich komme aus dem Westen und suche meine Eltern, die hier gewohnt haben. Kennen Sie die?“ versuchte er es freundlich auf Englisch.

Der Greis antwortete wirres Zeug, wahrscheinlich in polnisch, gestikulierte wild und schaute immer wieder die Oma an.

„Sprechen Sie englisch?“ fragte Robert zaghaft.

Die beiden vertatterten Greise schüttelten mit dem Kopf. Sie verstanden also kein englisch. Das war Robert zuwider. Jeder in Europa sollte englisch verstehen.

Er überlegte kurz, dann zog er seinen Organizer und seine Ausweiskarte aus der Tasche und zeigte den beiden seinen Personalausweiseintrag.

Die Alten schienen Angst vor dem winzigen Stück Technik zu haben, dann wagte der Opa aber doch einen Blick auf den Bildschirm. Er las mit seiner verrosteten Stimme zwei Wörter laut: „McAllister. Plostock“ Die Frau fragte ihn etwas, murmelte ihm schließlich etwas zu. Das Murmeln wurde immer lauter. Der Greis schien sie beruhigen zu wollen, aber sie begann zu schreien und mit den Händen um sich zu schlagen. Er schlug die Frau, damit sie sich beruhigte und gab ihr einen Befehl. Daraufhin schulterte sie ihr Gepäck und ging weiter.

Robert verstand überhaupt nichts mehr. Der alte Mann begann ihn wild zu beschimpfen, packte seinen Beutel und ging ebenfalls.

Robert blickte den beiden fassungslos hinterher. Sie stellten ihr Gepäck vor einem Haus ab und verschwanden wieder zwischen den Häusern. Wahrscheinlich arbeiteten sie mit den anderen des Dorfes auf den Feldern.

Da Robert nicht damit rechnete, daß es in dem Dorf jemanden gab, der englisch sprach, machte er kehrt und ging zu seinem Auto, um zurück nach Lodz zu fahren.

 

Kapitel IV (Licht im Dunkeln)

Robert war glücklich, wieder im Leben zu sein. Auf den überfüllten Bürgersteigen wuselten unzählige Menschen, auf den Straßen schoben sich die Autos langsam von Häuserblock zu Häuserblock. Die ruhige Wolkendecke spiegelte sich in den Fassaden der Bürogebäude und endlich war auch wieder etwas zu hören: Hier hupte ein Auto, dort wurde ein Mann beschimpft und ein Stück weiter hinten bellte ein Hund.

Robert ging in die Stadtbibliothek, ein unter Denkmalschutz gestelltes Gebäude des 20. Jahrhunderts.

Er suchte nach Mikrofilmen diverser Stadtzeitungen aus seinem Geburtsjahr 2002.

Und er wurde fündig: Ein Artikel, der am 16.09.2002, ein paar Tage nach seiner Geburt erschienen war:

Lynchjustiz in Plostock

Lodz- Gestern abend wurden ein Mann und eine Frau offensichtlich von der gesamten Dorfgemeinde des idyllischen Plostock auf bestialische Weise umgebracht.

Ein neutraler Augenzeuge berichtet, alles habe mit einem Fackelzug der Gemeinde begonnen, die sich schließlich vor dem Haus der zwei Getöteten eingefunden und diese zum Herauskommen aufgefordert hätten.GesterGeGG

Als nichts geschah, berichtet der Augenzeuge zitternd weiter, seien die jüngeren Männer in das Haus eingefallen und hätten die zwei sich wehrenden und in keinem Familienverhältnis zueinander stehenden Opfer an den Haaren herausgezogen, woraufhin wilde Beschimpfungen von seitens der Gemeinde losgebrochen seien. Schließlich hätten besonders die älteren Männer und Frauen auf die Frau eingeprügelt, bis sie unter lautem Jubelgeschrei und in den Himmel ragenden Fackeln an den Bäumen vor ihrem eigenen Haus erhängt worden sei.

Nachdem auch der Mann seinen Tod am Baum fand, wurden die Leichen wieder in ihr Haus gezerrt und zusammen mit ihm in Brand gesteckt. Die Meute soll in Andacht zum Wirtshaus des Dorfes gezogen sein und dort den Rest des Abends gefeiert haben, während das Haus bis auf die Grundmauern ausbrannte.

Robert holte tief Luft. Waren es seine Eltern, die so kurz nach seiner Geburt umgebracht wurden? Und wenn ja, warum? Plötzlich hatte er unbändige Angst vor Plostock und deren zwei Bewohner, die er bisher kennengelernt hatte. Wieviele Menschen lebten noch in Plostock? Und wenn sich herausstellte, daß er etwas mit den Ermordeten zu tun hatte, was würde die Gemeinde mit ihm anstellen? Würde sie ihn auch verbrennen?

Aber er mußte zurück. Zurück nach Plostock und herausfinden was in dieser Nacht und auch davor passiert ist.

Über eine Agentur besorgte sich Robert einen Dolmetscher, der noch polnisch sprach und sich bereiterklärte mit nach Plostock zu fahren.

 

Kapitel V (Die Rückkehr)

Abends, auf dem Weg ins Dorf blickte Robert stumm auf die vorbeiziehende Straße und dachte über den Artikel nach, bis Jerzy, der junge Dolmetscher das Schweigen brach.

„Sie werden im Dorf für Aufsehen gesorgt haben, denke ich. Die Einheimischen sind den Anblick von Stadtmenschen nicht gewohnt.“ erklärte er grinsend und freute sich auf das Abenteuer, das ihnen bevorstand. „Was genau suchen Sie eigentlich?“

Robert erzählte dem jungen Mann, warum er gekündigt hatte, weshalb er hergekommen war, und was ihm in Plostock bisher widerfahren war. Jerzys Grinsen verflüchtigte sich ein wenig. Vielleicht war der Auftrag abenteuerlicher, als er hoffte.

Als das alte Gemäuer mit dem vergilbten Plostockschild in Sicht kam, wies Jerzy Robert an, sein Auto vor dem Wirtshaus zu parken, weil das den besten Eindruck machte.

Als die beiden dann unentschlossen vor der Bar standen, war es still. Ebenso still, wie schon am Vormittag. In einigen Häusern konnte man hinter dunklen Gardinen Licht erkennen und auch in der Bierstube schimmerte es diffus.

Jerzy ging auf den Eingang der Schenke zu und öffnete die Tür. Innen war es dämmrig. Auf der kleinen Holzbar und auf einigen der runden Tische standen dicke Kerzen, deren Licht angefangen hatte zu flackern, als die Tür aufgegangen war. Zwei vollbärtige Männer standen an der Bartheke und schauten mit ihren dreckigen Gesichtern desinteressiert zu Jerzy, der ängstlich von der Tür hineinblinzelte. An einem Tisch saßen sieben Männer, die genauso alt und dreckig, wie die an der Theke aussahen. Sie schienen sich gerade über etwas wichtiges unterhalten zu haben und fühlten sich durch die Fremden gestört. Verschreckt blickten sie zu zur Tür. Niemand sagte ein Wort, niemand bewegte sich. Es war so leise, daß Robert dachte, er könnte das Zucken der Kerzenflammen hören.

„Nun sagen Sie schon was!“ zischte er von hinten.

Jerzy machte einen Schritt auf die Gruppe am Tisch und fragte etwas. Der stämmigste der Männer schüttelte bestimmt mit dem Kopf und stellte eine Gegenfrage.

„Sie bitten uns nicht an ihren Tisch. Die wollen erst wissen, was Sie wollen. Ich sage es ihnen, denke ich.“ übersetzte Jerzy und wendete sich wieder den Greisen zu. Robert beobachtete die Gesichter der Arbeiter. Als er hereingekommen war, blickten sie erschrocken und fragend. Aber was er jetzt wahr nahm, gefiel ihm überhaupt nicht. In den Gesichtern, besonders in dem des Stämmigen, wandelte sich Schreck in Wut, Haß und Angst.

Die Männer fingen wild an zu tuscheln. Zwei standen auf. Jerzy drehte sich um, rannte zum Ausgang und rief: „Wir müssen verschwinden!“ Er rannte Robert um, der noch immer fassungslos im Eingang stand, bis er begriff, und ebenfalls die Flucht ergriff.

 

Kapitel V-1 (Die Entscheidung)

Robert beeilte sich, öffnete den Wagen stieg ein und startete den Motor. Dann erst blickte er hinaus, zum Eingang der vermoderten Schanke. Die Männer standen allesamt in der Tür und riefen wild durcheinander. Robert legte den Rückwärtsgang ein und schlug auf der Straße aus Hektik die falsche Richtung ein. Aber das war ihm egal, er wollte nur weg.

„Ich denke, das war knapp!“ hechelte der Dolmetscher. „Da! Links. Das Haus!“ rief er überrascht.

Robert blickte kurz hinüber und schaffte es nur schwer den Blick wieder auf die Straße zu wenden. Dort stand ein in sich zusammengefallenes Haus. Es war total ausgebrannt. Ringsherum wucherte Unkraut. Mehr konnte Robert in dem Bruchteil der Sekunde nicht erkennen. Aber es konnte, nein, es mußte das Haus sein, von dem im Zeitungsartikel die Rede gewesen war. Robert zweifelte nicht daran. Und er zweifelte auch kaum noch, daß es seine Eltern waren, die damals in den lodernden Flammen verbrannten. Anders konnte er sich das agressive Verhalten der Einheimischen nicht erklären. Irgendetwas an seinen Eltern mußte die ganze Gemeinde derart in Angst versetzt haben, daß sie sich zusammenschloß, sie umzubringen. Und der Artikel ließ erahnen, daß es sich um mehr als Angst handelte.

Robert wendete sich Jerzy zu, der total zusammengekauert im Sitz hockte und auf den Boden starrte. Er war bleich.

„Was haben Sie denen erzählt?“ wollte Robert barsch wissen.

Jerzy blickte ihn wütend an und fauchte: „Nichts. nur die üblichen Formalitäten, wie Guten Tag und wir kommen aus der Stadt. Als sie dann wissen wollten, weshalb wir hier sind, habe ich ihnen gesagt, daß Sie in Plostock geboren sind und ihre Eltern suchen.“ Er machte eine kurze Pause. „Und das hat uns fast das Leben gekostet, denke ich. Verdammt was ist hier los McAllister?“

Robert zuckte resignierend mit den Schultern.

„Ich werde heute Nacht zurückkommen und mir die Ruine anschauen. Ich will wissen, was meinen Eltern zugestoßen ist!“ stellte Robert kühl klar.

Jerzy wurde spürbar nervös. „Nun sind Sie sich also auf einmal sicher, daß es sich in dem Artikel um ihre Eltern handelte? Scheiße, ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Mein Auftrag ist hiermit beendet, denke ich.“

Er wies Robert einen Weg zurück nach Lodz, ohne noch einmal durch Plostock fahren zu müssen, verabschiedete sich und stieg überhastet aus dem Wagen.

Robert war wieder allein. Ihm war schlecht. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen und wußte nicht, was er tun sollte. Deshalb suchte er zunächst ein Restaurant und bestellte etwas zu Essen.

Vorhin hatte es sich so nüchtern, so überzeugt angehört, als er Jerzy erklärt hatte, daß er in der Nacht zurückkehren würde. Aber je mehr er darüber nachdachte in der stockfinsteren Nacht, zumal allein, erneut in das Dorf Plostock zu fahren, deren Einwohner auf ihn unzivilisiert und agressiv wirkten, desto mehr nagte Zweifel an dieser Idee. Robert war hierhergekommen, weil er nach Orientierung im Leben gesucht hatte. Dies spielte nun keine Rolle mehr. Aber die Neugier war seit der ersten Begegnung mit dem unheimlichen Dorf bis ins Unermeßliche gestiegen. Seine Eltern mußten ein großes Geheimnis in sich getragen haben. Und mit ihrem Tod übergaben sie dieses Geheimnis den damals jungen Leuten des Dorfes. Es mußte ein so schreckliches Geheimnis sein, daß die Menschen selbst nach so vielen Jahren noch nicht zur Ruhe gekommen waren. Wenn sie Robert heute Nacht erwischen würden, ihn würde das gleiche Schicksal, wie seine Eltern ereilen.

Robert schluckte das letzte Stück seines Mittagessens hinunter.

Dieses Risiko wollte er eingehen.

 

Kapitel VI (Finsternis)

Roberts Wecker klingelte. Noch halb schlafend überlegte er, weshalb er im Auto aufwachte, aber nur Sekundenbruchteile später traf ihn die Antwort, wie der Schlag eines Boxers.

Er startete den Wagen und fuhr aus dem hell erleuchteten Lodz hinaus auf die Landstraße. Die bläulichen Lichtkegel seines Autos ließen Sicht auf den grauen Asphalt, nur in den Augenwinkeln erkannte Robert die leuchtenden und blinkenden Wolkenkratzern des auch um diese Zeit sehr belebten Lodz.

Er überlegte, ob er das Auto vor dem Dorf abstellen und zu Fuß bis zum Haus seiner Eltern laufen oder direkt davor parken sollte. Zu Fuß würde er weniger Lärm machen, aber wenn ihn jemand entdeckte, war er mit dem Auto schneller wieder verschwunden.

Er stellte seinen Wagen 500 Meter vor dem Dorfeingang ab. Sein Herz klopfte laut, als er an dem ersten Haus vorbeikam. Als erhoffte er sich von ihm eine Antwort, starrte er dabei auf das brüchige „Plostock“ Schild an der Wand. Bestimmt hatte es auch schon zu seiner Geburt hier gehangen.

Robert blieb kurz stehen und lauschte in die Nacht hinein. Es war nichts zu hören und Licht konnte er auch in keinem Haus entdecken. Er ging weiter.

Dann endlich stand er vor den abgebrannten Resten des Hauses seiner Eltern. Zumindest äußerlich schien es sich nicht – bevor es in Brand gesteckt wurde – von den anderen Häusern unterschieden zu haben. Robert kam ein Stück näher und ging langsam um das Grundstück herum. Er wußte nicht genau, wonach er suchte. Überhaupt kam ihm die Idee, jetzt wo er wirklich hier war, etwas zu finden, sehr naiv vor. Er wollte umkehren, als er so etwas wie ein Loch zwischen den zusammengefallenen Wänden, Fenstern und Holzbalken erspähte. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt und es war deutlich zu sehen, daß dort ein mindestens zwei Meter tiefes Loch war. Das verwunderte ihn, denn er wußte, daß unter diese Art von Gebäuden, die in diesem Dorf standen, eigentlich keine Keller gebaut wurden.

Er sah den winzigen Zipfel einer Chance.

Robert zückte seine Taschenlampe und ging sehr nah an das Loch heran. Er hielt das kleine Lämpchen hinein und erst dann schaltete er es an. Schließlich könnte irgendeine schlaflose Omi gerade aus dem Fenster schauen und das Licht sehen. Und das wäre nicht gut.

Robert behielt Recht. Unter dem Haus war ein Keller und zumindest dieses Stück war relativ frei. Er konnte den Boden erkennen, auf dem nur Glasscherben und ein zerbrochener Stuhl lagen.

Robert ließ sich hineingleiten. Die Luft war geschwängert von Staub und Dreck. Es roch erbärmlich. Große Teile des Kellers waren unzugänglich verschüttet. Überall lagen kleinste Glasscherben zwischen angekokelten Möbelstücken. Und dazwischen ein Foto.

Robert hob es mit zitternden Fingern auf. Das Bild zeigte den Kopf einer jungen, blonden, zugegeben, sehr attraktiven Frau. Sie lächelte überglücklich in die Kamera. Das Foto war nicht beschriftet. Robert steckte es in die Jacke und suchte weiter. Die Scherben knirschten laut unter seinen Schuhen.

Er kämpfte sich weiter vor, indem er Holzbalken beiseite stemmte. In diesem Teil des Kellers war das Chaos perfekt. Tische und Stühle lagen wirr übereinander, überzogen mit Asche und Glassplittern. Roberts Interesse wurde von einer verrußten Metalltruhe geweckt, die unscheinbar in einer Ecke stand.

Er spürte, wie seine Neugier wuchs. Die Kiste war unverschlossen. Im Innern lagen Fotos. Wieder war die Blondine zu sehen. Sie hatte sich wohl hier unten im Keller fotografieren lassen. Im Hintergund waren Schränke mit Büchern und Tische mit laborartigen Versuchsaufbauten zu sehen. Die Frau war schwanger. Auf mehreren Fotos war ihr dicker Bauch deutlich zu sehen. Mit dem Finger strich Robert langsam über ihr Gesicht. Er hatte seine Mutter gefunden! Diesmal waren sämtliche Fotos mit einem Datum versehen. Die ersten waren auf Januar 2002 datiert. Auf ihnen war noch nicht zu erkennen, daß seine Mutter schwanger wäre. Das neunte Foto war das letzte. Es war vom September 2002. Auf allen Fotos lächelte sie. Kein einziges Foto zeigte eine andere Person, keinen Mann und keine Frau.

Robert griff noch tiefer in die Kiste. Außer einem Büchlein war nichts mehr darin.

 

Kapitel VII (Die Erleuchtung)

Mit sauberer Handschrift stand „Mein Tagebuch“ darauf. Er klappte den Deckel auf.

„09.11.2001

Ich führe nun zum ersten Mal Tagebuch, weil heute ein seltsamer Tag war und wohl auch die Zukunft ungewöhnlich und sehr interessant wird.

Nachdem ich mich auf eine Anzeige „Mit weiblicher Toleranz und Wagemut viel Geld verdienen!“gemeldet hatte, habe ich mich heute mit zwei sehr netten jungen Männern getroffen. Sie wollten, daß ich ein Kind austrage, das haben Sie mir gleich in den ersten fünf Minuten gesagt. Zuerst war ich geschockt, schließlich ist jegliches Treiben in eine solche Richtung verboten, seitdem der Skandal mit den Menschenklonen als Ersatzteilspender ans Licht gekommen ist. Gentechniker, die weiter an ähnlichen Projekten arbeiten, werden immer härter verfolgt. Das weiß ich und das haben mir die beiden Männer auch gesagt. Sie erklärten mir, daß es ihnen ziemlich schlecht ginge. Durch das weltweite Verbot hätten sie ihren Job verloren. Sie verstünden alle moralischen Bedenken solcher Projekte, versichterten sie mir. Und sie würden auch die Finger davon lassen, wenn ich ihnen ihren großen Wunsch erfüllte: Die beiden lieben sich, haben auch geheiratet. Aber ein Kind wollten sie nicht adoptieren, weil sie dann das größte Abenteuer, daß die Natur bieten könnte, nicht erleben würden. Sie wollten sehen, wie ihr eigenes Kind ihnen ähnelt und wirklich das Gefühl haben, die Eltern zu sein. Sie fänden es ungerecht, daß dies den homosexuellen Paaren vorenthalten wurde. Dann erklärten sie mir was sie vorhatten. Davon verstand ich aber nicht allzu viel. Jedenfalls wollten sie einer meiner Eizellen sämtliche Gene entnehmen und stattdesen die des einen Mannes einpflanzen. Dann wollten sie diese Zelle mit den Samen des anderen Mannes befruchten und mir wieder einpflanzen. Ein Kinderspiel, haben sie mir versichert. Eine ganz normale Schwangerschaft und nach neun Monaten hätte ich meine Freiheit wieder. Und einen Haufen Geld.

Ich habe mich auf das Abenteuer eingelassen und nun ziehen wir nach Plostock. Einer der Männer erklärte mir, daß alle Gentechniker streng bewacht wurden und daß wir uns deshalb aus großen Städten fernhalten müßten und stattdessen in ein kleines, zurückgebliebenes Dorf gehen sollten. Nächste Woche geht es los.“

Robert holte tief Luft. Er konnte das Gelesene nicht fassen. Er blätterte weiter.

„02.12.2001

Solangsam habe ich mich an die ruhige Dorfathmosphäre gewöhnt. Die Einwohner hier sind sehr nett. Al und Nat sehe ich selten. Sie sind unten im Keller und experimentieren. Ich soll mich als Ehefrau von Nat ausgeben, wenn ich auf die Straße gebe und das ist okay. Er sieht gut aus. Mit den beiden werde ich es dieses eine Jahr schon aushalten.“

„10.01.2002

Bald soll es soweit sein, dann werde ich schwanger. Al hat mir erzählt, daß überhaupt nichts schief gehen könne. Ich habe inzwischen Freundinnen gefunden hier. Ich muß nur dauernd lügen, weil natürlich niemand wissen darf, was die beiden Männer wirklich vorhaben.

„ 26.02.2002

Heute wurde mir meine Eizelle wieder eingeplanzt. Seit heute bin ich also schwanger. Ich habe keine Schmerzen verspürt. Ich bin gespannt, wie das Experiment weitergeht. Mit Al und Nat verstehe ich mich weiterhin sehr gut.

„04.05.2002

Es verläuft alles glatt. Die Leute im Dorf wissen, daß ich schwanger bin. Wir haben ihnen erzählt, daß Kind sei von Al. Stimmt ja auch irgendwie. Ich glaube, wenn hier jemand die Wahrheit wüßte, würde es Probleme geben.

„28.05.2002

Heute fühle ich mich schlecht. Irgendetwas ist anders, wandelt sich. Ich habe das Gefühl, aber es ist eben nur ein Gefühl, daß meine neugewonnenen Freundinnen mich neuerdings anders anschauen. Ich kann die Veränderung nicht sehen, aber ich spüre sie deutlich.“

„05.06.2002

Kaum jemand scheint noch etwas mit mir zutun haben zu wollen. Al und Nat bekommen das alles nicht mit und ich möchte ihnen auch nicht unbedingt erzählen. Vielleicht würden sie ihr „Projekt“ in Gefahr sehen. Ich bin ein wenig verzweifelt, aber vielleicht ist das ja nur die Schwangerschaft.“

„25.06.2002

Heute habe ich es nicht mehr ausgehalten und auf dem Markt meine ehemals beste Freundin gefragt, warum sich niemand mehr unterhalten wolle. Ich sah ein böses Blitzen in ihren Augen, dann zischte sie: „Das weißt Du ganz genau.“ drehte sich um und ging schnellen Schrittes davon. Ahnen Sie vielleicht etwas? Aber woher sollten sie es wissen?“

„02.07.2002

Als ich heute aus dem Haus ging, war die Wand mit den Buchstaben „Teufel“ bemalt. Ich bin wieder umgekehrt. Al und Nat wissen inzwischen auch von meinen Problemen im Dorf, aber sie spielen das herunter. Die beiden haben beschlossen, daß ich das Haus nicht mehr verlassen soll, bis ihr Kind auf der Welt ist. Wir sollten nur Wasser trinken und Al würde nachts auf die Felder gehen und für Nahrung sorgen.“

„01.08.2002

Ich denke, es ist wieder besser geworden. ich war seit fast einem Monat nicht mehr im Dorf, nur ab und zu hinter dem Haus frische Luft schnappen. Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl. Ich hoffe, das Kind wird bald geboren. Ich fühle mich zwar sehr verbunden mit ihm, schließlich wächst es in meinem Körper, aber ich weiß, daß es niemals mir gehören wird. Außerdem fühle ich mich schuldig, solange ich es mit mir herumtrage. Weshalb, weiß ich nicht genau.“

„17.08.2002

Die Dorfgemeinde steht versammelt vor unserem Haus und ruft ihm Chor, wir seien Diebe, wir hätten ihre Felder bestohlen. Wir sollen verschwinden. Al ist sehr nervös. Ich glaube er streitet sich mit Nat.“

„18.08.2002

Al hat Nat überzeugt, mir ein Medikament zu geben, damit daß Kind früher geboren wird. Sie fühlen sich inzwischen sehr unsicher. Mich fragt niemand.“

„12.09.2002

Das Kind, ein Junge, ist geboren. Aber Nat hat es mir sofort entrissen und ist mit ihm abgehauen. Währung ich mich von den Strapazen der Geburt erhole, ist Al dabei, die gesamte Laboreinrichtung im Keller zu zerstören, wir wollen so schnell wie möglich weg. Sobald ich mich dazu in der Lage fühle, reisen wir Nat hinterher.“

Robert blätterte weiter, aber die restlichen Blätter waren leer. Er weinte. Woran sollte er jetzt festhalten?

War er wirklich ein Mensch? Nein, er war nur ein Experiment.

Er war ein Mensch. Ein Mensch, der aus der Liebe zweier anderer Menschen entstanden ist. Wie konnte er nur seinen Vater, Nat finden? Es wäre der Beweis, daß er ein echter Mensch war.

Schreibe einen Kommentar

Nach oben scrollen