Mit dem Kopf durch die Wand

Achim strampelte mit seinem Montainbike den langen, steinigen Waldweg entlang und hoffte einen Blick auf ein Reh zu erhaschen. Einen Hasen zu sehen, hätte ihn auch zufriedengestellt. Es wäre ihm sogar der geringste Wink eines Vogels genug gewesen. Selbst die Klänge von Vogelgesang hätten ihn beruhigt.

Aber es war still um ihn herum. Die einzigen Geräusche waren das Quietschen der Pedale des rostigen Drahtesels und die Geräusche der dicken Reifen auf sandigen Waldweg.

Er schob seinen Hut zurecht, der beim Fahren über Schlaglöcher dauernd verrutschte.

Ihm liefen Schweißperlen von der Stirn, obwohl es zwischen den grünen Bäumen und dem frischen Waldboden schattig und kalt war.

War dort ein Reh?

Die Blätter wiegten sich leicht im Wind und reflektierten die Sonnenstrahlen in immer neue Richtungen, fast wie eine Discokugel.

Achim bekam langsam Zweifel, ob er sich nicht verfahren hatte. Längst hätte er seine kleine Baracke, in der er schon den einen oder anderen Sommerabend verbracht hatte, erreichen müssen.

Vor vier Jahren hatte er diese Waldhütte dem alten Franz abgekauft, der als Förster seine Geräte darin aufbewahrt hatte. Der neue Förster, ein komischer Kauz namens Olderstedt hatte diesen Bretterverschlag nicht gewollt. Er sagte, sie sei „schäbig“ und baute sich selbst eine.

Achim hatte die Holzhütte erst einmal ausgemistet und sich dann fast ein ganzes Jahr Zeit gelassen, sie für sich einzurichten. Einen Parkettboden hatte er gelegt und sich einen alten Tisch und einen Schrank hineingestellt. Das Beste aber hatte ihm sein Vater vererbt: Vor der Hütte hatte Achim einen knarrenden Schaukelstuhl mit weichen Sitzpolstern zu stehen.

Seitdem genoß er es an besonders warmen Tagen mit dem Fahrrad zu seiner Hütte zu radeln und den Abend im Sonnenuntergang zu verbringen. Oft hatte er ein Fernglas dabei und beobachtete Wildscheine, Rehe und Vögel.

Manchmal las er aber auch ein gutes Buch oder lauschte einfach in den Wald hinein.

Doch heute fuhr er schon viel zu lange. Er hatte zwar keine Armbanduhr und es gab auch keine bestimmten Merkmale am Weg, trotzdem fühlte er sich immer unbehaglicher.

Nach weiteren zehn Minuten Fahrt schlug das Unbehagen in Panik um. Achim schmiß sein Zweirad auf den Weg und rannte in den Wald. Schweiß vermischte sich mit Tränen zu einem stinkenden Wasser, das ihm vom Gesicht rann. Er schrie vor übermächtiger Angst aus vollem Hals in den Wald hinein, der das Echo auf unheimliche Weise zu verschlucken schien.

Achim ließ sich nieder. In seinem Kopf drehte es sich, aber er konnte nicht den Zipfel eines Gedankens fassen (als drehte man ein vielfarbiges Rad so schnell, daß alle Farben zu einem schlichten Weiß wurden).

Er stand in diesem Wald, es war viel heißer als eben noch, auch sein Fahrrad hatte er nicht dabei. Ein herrlich purpurn schimmerndes Gras überdeckte den eintönigen Waldboden. Etwa zehn Meter vor ihm stand Franz auf einem alten, mit geschnitzten Figuren verzierten Hochsitz und winkte ihm mit beiden Händen zu. Neben dem verschnörkelten Hochsitz stand Achims kleine Hütte, die in purpurnen Farbergüssen aufloderte.

Plötzlich setzte sich eine dicke fette Hummel genau vor Achim auf den Pfad. Sie war so groß wie ein VW Käfer und hörte sich wie das alte Mofa an, mit dem er früher immer über die Felder seines Vaters gefahren war.

Er zuckte zusammen. Die Hummel umkreiste ihn mehrmals. Sie schimmerte im tiefsten Rot und ließ sich schließlich genau vor Achim nieder. Ihre riesigen schwarzen Facettenaugen starrten ihn an. Die fellartige Haut hinter dem Kopf sträubte sich nach oben. Die durchsichtigen, verklebten Flügel schwangen langsam auf und ab. Man spürte den Wind, den sie machten.

Sie versperrte Achim den Weg zu Franz. Sie versperrte ihm den Weg zu seiner Baracke, sie versagte ihm das Weiterkommen.

SIE war der Grund seiner Panik.

 

Achim setzte einen Fuß vor.

Das Surren setzte ein und die Flügel wurden latent genauso wie die faßbaren Gedanken Achims, als sich die Hummel majestätisch langsam in die Lüfte schwang.

Sie schwirrte immer und immer wieder um Achim, der erstarrt auf der Stelle stand. Dann ließ sie sich wieder vor ihm herab und wartete wie ein Schachspieler auf die Reaktion seines Gegenübers, um erneut kontern zu können.

Achim setzte seinen Fuß ganz langsam wieder zurück. Er hatte begriffen, daß er nicht einfach an dem riesigen Gliedertier vorbeilaufen konnte.

Die riesigen Augen, nahmen das wie ein Pokerspieler hin, es passierte nichts.

Achim schaute sich um, aber ihm fiel nicht ein, was er tun konnte.

Schließlich schloß er die Augen.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, aber er saß nach wie vor auf dem Waldboden zwischen den Bäumen und irgendwo zwischen der Zivilisation und seiner Holzhütte.

Wahrscheinlich hatte er alles nur geträumt. Bestimmt hatte er nur eine Pause eingelegt, weil er müde war und würde in fünf Minuten endlich seine Waldbaracke erreichen.

Achim raffte sich auf. Er kletterte auf seinen Tretesel und strampelte weiter. Er pfiff ein altes Wanderlied, schaffte es aber nicht, sich damit über seine Lage hinwegzutäuschen; Er bewegte sich, aber er legte keinen Weg zurück.

Das Gras erstrahlte nicht mehr im zauberhaften Purpur. Dann kam die Erinnerung: Die Begegnung mit der Hummel und den seltsamen Farben, seine Hütte und Franz, all das hatte er nur geträumt.

Aber war es wirklich nur ein Traum? Konnte es nicht auch die Erklärung dafür sein, weshalb dieser Wald heute wie ausgestorben war und er seine Hütte nicht erreichte?

Achim hielt wieder an und setzte sich erneut ins Laub. Dort! Genau neben ihm war das Laub zerdrückt, und teilweise weg gescharrt. Er legte seine Hand auf diese Stelle und sie war warm. Eben noch mußte hier jemand gesessen haben!

„Hallo!“, schrie Achim mit großer Hoffnung. Er schaute in alle Richtungen, doch sah niemanden.

„HALLO! IST HIER JEMAND!“, rief er und seine Panik kroch erneut in ihm auf, wie Myriaden von Ameisen, die auf der Innenseite seiner Haut nach oben krabbelten.

Dann fiel es ihm ein: Natürlich hatte hier eben noch jemand gesessen. Er selbst. Er hatte dort gesessen und von einer riesigen Hummel geträumt und war dann weitergefahren. Nicht wirklich, denn sonst säße er schon lange in dem knarrenden Schaukelstuhl seines Vaters und würde einen alten Westernroman lesen. Er war nicht einen Zentimeter vorangekommen und jetzt saß er wieder hier.

Die Hummel. Er mußte an dieser verdammten Hummel vorbei. Sie versperrte ihm den Weg zu seinem Ziel. Wie ein herabstürzender Amboß traf ihn diese Einsicht und erdrückte seinen gesunden Menschenverstand ebenso stark.

Wo war er jetzt? War er in dem Purpurwald bei der Hummel oder saß er an der Stelle auf dem Waldboden, wo er schon vorhin gesessen hatte?

Achim wußte es nicht so genau. Er mußte überlegen, auch wenn es ihm jetzt schwerfiel, er MUßTE!

Er hatte einen Weg eingeschlagen, war jedoch nicht weitergekommen. Dann kam die Hummel und bei ihr hatte er das gleiche versucht. Er setzte einen Fuß vor den anderen und war nicht weitergekommen.

Wenn er also sein Ziel, die gemütliche Hütte, auf dem direkten Wege nicht erreichen konnte, dann mußte er einen Umweg machen.

Das leuchtete ihm ein: Einen Umweg machen.

Umweg! Wie konnte er das schaffen?

Das riesige Insekt saß dick und fett vor ihm auf dem Weg und musterte ihn. Es schien, als fände sie Gefallen an Achims offensichtlicher Verzweiflung.

Achim drehte sich vorsichtig um neunzig Grad und versuchte aus dem Augenwinkel die Reaktion der Hummel zu erkennen.

Nichts. Sie wartete. Sie beobachtete ihn.

Ganz vorsichtig hob Achim sein linkes Bein und verdrehte die Augen, um das Tier zu sehen.

Er hätte es nicht sehen müssen, denn jetzt hörte er es überdeutlich, die Flügel summten wieder, die Hummel umkreiste ihn und versetzte ihm einen Stoß.

Achim fiel nach hinten. Die Hummel pflanzte sich wieder genau in die Mitte des Weges und versperrte den Weg zu Franz, der immer noch winkte.

Er schien das Tier nicht zu sehen. Er lächelte, als wollte er Achim zu einer Tasse Kaffee einladen.

Achims Fahrrad lag auf dem Weg und die Hummel war verschwunden.

Er beschloß die Sache ganz einfach zu beenden. Er würde einfach umdrehen und nach Hause fahren. Damit würde er dieser ganzen verrutschten Welt ein Schnippchen schlagen. Und wenn er endlich wieder vor seinem Fernseher säße, würde er merken, daß er alles nur geträumt hatte.

Achim schwang sich auf sein Fahrrad, machte kehrt und trat kräftig in die Pedale.

Das Gefühl, nicht voranzukommen, fesselte ihn und raubte ihm die Kraft weiterzufahren.

Diesmal stand er aber an einer anderen Stelle im Wald, zumindest fand er den Platz, an dem er vorhin gesessen hatte, nicht wieder.

Irgendwo, oder besser irgendwie mußte er festsitzen. Er kam weder zur Hütte noch wieder aus dem Wald und diese Tatsachen (Waren es überhaupt Tatsachen? Wurde Achim nicht vielleicht einfach nur alt? Kam er einfach nicht mehr zurecht in unserer Welt?)

Das Bild der sitzenden Hummel erleuchtete wieder in seinem Kopf, groß wie die Leinwand im Kino.

Er hatte es versucht auf direktem Wege daran vorbeizukommen. Er war gescheitert.

Er hatte es mit einem UMWEG versucht. Er war gescheitert.

Aber es mußte eine Lösung geben. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!“, fiel es Achim ein. Er lachte verbittert. Ja, dachte er sich , einen Weg habe ich. Und es ist ein toller Weg. Er führt nämlich nirgendwo hin.

Aber war das richtig? Hatte ihn der Weg nicht zur Hummel geführt? Und hatte er nicht auch Franz und seine Hütte gesehen?

Er war einfach losgefahren, zur Hütte, ohne sich zu überlegen, was er machen würde, wenn er nicht ankommen würde. Er hatte es einfach vorausgesetzt und die Welt hat ihn eines Besseren belehrt. Und nun stand er da, wie ein begossener Pudel und wußte nicht vorwärts und nicht rückwärts.

RÜCKWARTS! Das war es! Rückwärts.

Er hatte es direkt versucht, mit dem Kopf durch die Wand also. Dann ist er auf die Illusion hereingefallen, man könne sich durch einen Umweg durchmogeln. NEIN!

Die Sache mußte angepackt werden.

Achim lief der Schweiß über die Stirn. Er setzte sich zwischen die Laubblätter und schloß die Augen. Es mußte einfach klappen.

Die Hummel saß wieder vor ihm. Unermüdlich beobachtete sie ihn, bereit, sofort einen „Angriff“ gegen ihn und seine primitiven Vorstellungen von Problemlösungen zu fliegen.

Ohne den Feind aus den Augen zu lassen, bewegte Achim sich langsam rückwärts.

Er setzte einen Fuß hinter den anderen. Er entfernte sich von dem Insekt.

Und das Insekt entfernte sich von ihm. Ja! Es krabbelte ebenfalls rückwärts. Achims Feind, Achims Problem entfernte sich mit jedem Schritt, den er rückwärts tat.

Dann blieb er stehen und erwartete eine Reaktion der Hummel. Sie war inzwischen soweit zurück gekrabbelt, daß sie den Weg zu Franz und seiner Hütte nicht mehr versperrte.

Achim öffnete die Augen. Er stieg auf sein Fahrrad und erreichte die Hütte binnen fünf Minuten. Er ließ sich auf dem knarrenden Schaukelstuhl nieder und wußte, daß er die Hummel nicht besiegt hatte. Irgendwann, würde sie wieder dazwischen stehen. Aber es war nicht so schlimm, den er wußte, wie er mit ihr umgehen mußte. Er hatte sie unter Kontrolle.

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